Am Sonntag, 13. September 2015 verkündete der deutsche Innenminister Thomas De Maizière auf einem ad-hoc einberufenen Pressetermin die Aussetzung der Schengener Abkommen und die Wiedereinführung von Kontrollen im bayerisch-österreichischem Grenzgebiet. Der Innenminister erklärte: „Ziel dieser Maßnahme ist es, den derzeitigen Zustrom nach Deutschland zu begrenzen und wieder zu einem geordneten Verfahren bei der Einreise zurückzukehren.“ Nach dem Ende des Statements ließ der Pressesprecher des Ministeriums keine Fragen zu und folgte dem Innenminister aus dem Raum.
Dem vorausgegangen war der lange Sommer der Migration, währenddessen Hunderttausende Geflüchtete sich ihrer Situation entrissen hatten und über die sogenannte „Balkan-Route“ nach ihrer Ankunft in Griechenland über Mazedonien, Serbien und Ungarn ihren Weg weiter nach Mitteleuropa suchten - einem Europa, das Menschenwürde, Gleichheit und Nicht-Diskriminierung als Grundrechte proklamiert.
Etwa 30 Stunden später trat zur Mitternacht des 15. Septembers am nördlichen Ende der „Balkan-Route“ in Ungarn ein Gesetz in Kraft, das die Einreise von Geflüchteten unter Strafe stellte. Neben weiteren Maßnahmen, die das Land in nationalstaatlichem Alleingang einführte, droht Menschen, die ohne gültige Visa oder europäischen Reisepässen einreisen, bis zu drei Jahren Haft.
Parallel zur Gesetzeskraft zäunte das rechtspopulistisch regierte Land seinen gesamten gemeinsamen Grenzverlauf mit dem südlichen Nachbarn Serbien zu. Das drakonische Strafmaß führte zu einer künstlich geschaffenen humanitären Krise auf der „Balkan-Route“. In der Folge verschoben die festgesetzten Migrant*innen die Route nach Westen und überquerten Kroatien um weiter nach Mittel- und Nordeuropa zu gelangen.
Mit dem Schengener Durchführungsübereinkommen und dessen Erweiterungen, mit denen systematische Kontrollen ab Frühling 1995 sukzessive an den meisten europäischen Binnengrenzen abgeschafft wurden, verfolgten die europäischen Staaten das Ziel eines gemeinsamen und international konkurrenzfähigen Binnenmarktes. Damit ging auch die Freizügigkeit für Unionsbürger*innen einher.
Jedoch wurde parallel mit den Schengener Abkommen das sogenannte Dublin-System verhandelt. Die Dublin-Regeln legen fest welcher Mitgliedsstaat der Europäischen Union für das Asylverfahren einer*s Drittstaatsangehörige*n zuständig ist – in der Regel das Mitgliedsland, über welches der*die Asylsuchende die Europäische Union betreten hat. Damit delegiert die inzwischen zur Verordnung weiterentwickelte Dublin-III Regelung de facto die größte Verantwortung an die Länder der geographischen Peripherie der Europäischen Union, da die Großzahl der illegalisierten Migrant*innen Europa über die geographischen Außengrenzen erreicht.
Migrantische Mobilitätsbewegungen haben sich jedoch immer wieder über die Dublin-Regeln hinweggesetzt, da individuelle Hoffnungen, Wünsche und Träume nicht vereinnehmbar sind, wie der Migrationsforscher Stephan Scheel schreibt. So auch im Jahr 2015 während des langen Sommers der Migration. In der gesellschaftlichen Debatte werden aber oft jene Regeln nicht hinterfragt, die der Migration das subjektive Gesicht entreißen und verobjektivierte Migrierende – die dann nur noch als Zahlen und eventuell nach Ethnien differenziert verhandelt werden - zu kontrollieren versuchen.
Kroatien und Slowenien hatten Mitte September nach der ungarischen Einzäunung auf die Verschiebung der Fluchtroute durch ihre Grenzen hindurch überrascht reagiert. Aber etwa zeitgleich mit der Einführung von Einlassschleusen an den deutsch-österreichischen Grenzübergängen haben alle Staaten entlang der nach Westen verschobenen Fluchtroute Maßnahmen zur effizienten „Abfertigung“ von Migrant*innen eingeführt und diese mit der Zeit weiter auf Effizienz ausgebaut.
Seit Ende Oktober bestehen entlang der neuen Route staatliche und militärische Infrastrukturen des Migrationsmanagements, die auf Kontrolle und Entschleunigung der migrantischen Mobilität hinwirken. Als Nebeneffekt vereinfacht diese Systematisierung des Transits die Weiterreise für Migrant*innen. Diese neuartige Dynamik, die sich aus dem Aufeinandertreffen des langen Sommers der Migration und staatlichem Kontrollbestreben ergeben hat, zeichnet den Herbst der Mobilität.
Lange Zeit waren die starken Ökonomien Mittel- und Nordeuropas sehr überschaubarer Belastung ihrer nationalen Asylsysteme ausgesetzt. Mit der durch die Schengener Abkommen einhergegangenen Verlagerung von Grenzkontrollen und der Delegation gesamteuropäischer Verantwortung durch das Dublin-System an die Ränder Europas, waren folglich auch humanitäre Missstände, kollabierende Asylsysteme und Krisen ausgelagert.
Konfrontiert mit dem Kollaps des Dublin-Systems im Sommer und durch die Dynamiken des Herbsts der Mobilität, wurden die mittel- und nordeuropäischen Staaten dazu gezwungen sich ihrer Verantwortung zu stellen. Unerträgliche Missstände waren nicht mehr nur Sache europäischer Peripherie – sondern Mitten in Europa und nicht weiter zu verleugnen. Stadien, Ausstellungspavillions, alte Schulen und Einkaufszentren, Werkstätten, und sogar ein ehemaliger Flughafen-Hangar wurden zu Notunterkünften für Asylsuchende umfunktioniert: Ein paar Quadratmeter pro Mensch. Privatsphäre: nicht vorgesehen. Dauer: ungewiss.
Ab Herbst haben sich die europäischen Länder mit Migrationsbewegungen auf mehreren Gipfeln und Konferenzen befasst. Aber erst dann, als die migrantische Mobilität aus ihrer hegemonialen Perspektive eine kritische Masse erreicht hatte und zur Wiederherstellung von Territorialkontrolle eingedämmt werden sollte.
Die EU-Staatschef*innen sind am 17. Dezember 2015 zum zweitägigen Endjahrestreffen des Europäischen Rates in Brüssel zusammengekommen – primärer Tagesordnungspunkt: Migration. Dem Treffen waren zwei gesonderte „Migrationsgipfel“ vorausgegangen: zum Einen mit afrikanischen Ländern und zum Anderen mit der Türkei. Schon eine Woche nach dem EU-Türkei-Gipfel hatten türkische Behörden begonnen Migrant*innen vor ihrer Abreise gen den griechischen Inseln Kos und Lesbos festzusetzen und ins Landesinnere zu transportieren. Mit dem Effekt, dass Migrant*innen vermehrt gefährlichere Passagen riskieren.
Während der Sitzung des Europäischen Rates haben die Regierungschef*innen erste konkrete Maßnahmen benannt. Darunter die Sicherung systematischer Sicherheitskontrollen an den Außengrenzen und den Ausbau sogenannter „Hotspots“, die als Registrierungszentren mit Abweisungsbefugnis dienen, an den Außengrenzen und entlang der Fluchtrouten. Weiterhin bekräftigten die Regierungschef*innen, an Beschlüssen der vorangegangenen Migrationsgipfel festhalten zu wollen und jene Maßnahmen in Absprache mit nationalen Minister*innen zu konkretisieren.
Strategien wie der Ausbau von Hotspots sind klassische Quick-Fix-Lösungen, die in Reaktion auf von hegemonialer Perspektive bestehende Probleme hinzielen. Diese haben nicht ein nachhaltiges Interesse an den Grundproblemen der Migrant*innen zu wirken, vielmehr legitimieren sie durch ihre Systematisierung deren bestehende Probleme.
Im Fall von Hotspots beispielsweise wird nicht darauf eingegangen, dass Migrant*innen aufgrund restriktiver Visapolitik der Europäischen Union nicht ordnungsgemäß einreisen können. Vielmehr nimmt dieses Konzept lebensgefährliche Überfahrten an die Außengrenzen hin und definiert sie als irregulär.
Bereits einen Monat nach der Sitzung des Europäischen Rates hat die europäische Grenz- und Migrationspolitik sehr restriktive Tendenzen angenommen, so dass nun von einem Winter der Kontrolle geredet werden kann: Schweden zwingt seit Anfang Januar Transportunternehmen Pässe aller Reisenden zu kontrollieren und nur diejenigen Menschen mitzunehmen, die Gültige aufweisen können. Die deutsche Bundespolizei weist an den kontrollierten Grenzübergängen zu Österreich Menschen zurück, die nicht in Deutschland Asyl beantragen möchten. Österreich hat medienwirksam eine sogenannte Obergrenze für Asylsuchende eingeführt. Und dieser Domino-Effekt setzt sich vom Norden gen Süden Europas fort.
Am südlichen Ende der „Balkan-Route“ war Mazedonien schon im November vorauseilend dazu übergegangen, nur Migrant*innen syrischer, irakischer oder afghanischer Nationalität den Transit durch den staatlich kontrollierten Korridor zu erlauben. Und in Griechenland werden derzeit Menschen anderer Nationalitäten festgesetzt; marokkanische Staatsbürger*innen wurden sogar vor die „Wahl“ gestellt, entweder freiwilliger Ausreise einzuwilligen, abgeschoben oder eingesperrt zu werden.
Es bleibt unklar, wie lange national-staatliche Denkweisen und Praktiken den Diskurs dominieren und europäische Mächte an menschenunwürdigen Praktiken festhalten werden. Erste Befürchtungen, dass der Schengen-Raum auseinanderfallen könnte, kommen aus der Wirtschaft. Und wie ökonomisch die Schengener Abkommen motiviert sind, verdeutlichte der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker auf seiner Neujahrespressekonferenz 2016 mit dem Satz „Wer Schengen tötet, wird den Binnenmarkt zu Grabe tragen“. Die deutsche Bundespolizei hat sich jedenfalls bereits auf einen mehrjährigen Einsatz an der bayerisch-österreichischen Grenze vorbereitet. Ein europäischer Frühling ist nicht in Sicht.
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